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Die fünf Abessinier Haniel, Jafkiel, Camael, Andon und ihr Anführer oder Sprecher Metathron wiesen Blaubart und mir den Weg. Hoch oben auf den aneinandergereihten Dächern mit Vogelperspektiven-Blick auf die zugeschneiten Gärten war dies kein schlechter Dienst. Der Sturm dachte nicht daran, Feierabend zu machen, und deckte uns mit seinem Schneeflockenbombardement immer noch ordentlich ein. Von der unerträglichen Kälte ganz zu schweigen. Da kam es wirklich nicht ungelegen, daß diese zwar ziemlich blasiert wirkenden, aber offenkundig hilfsbereiten Typen die nächstgelegene Feuertreppe kannten.

In vielerlei Hinsicht hatten mich die sonderbaren fünf zum Nachdenken gebracht, um nicht zu sagen, in Verwirrung gestürzt. Zum einen lag es an ihrer Rasse, der ältesten unserer Art, wie es heißt. Gewiß, Abessinier sah man nicht alle Tage, und deshalb ging unweigerlich etwas Geheimnisvolles von ihnen aus. Sie waren mit ihrem eher dem Wildkaninchen ähnelnden, sandfarbenen Fell, ihren zwischen Zinkgelb und Blaßgrün changierenden Augen, vor allem jedoch ihren dornengleich aufragenden Härchen an den Ohrspitzen, den sogenannten Ohrpinseln, quasi die Howard Hughes' unter uns Normalsterblichen. Doch das erklärte nicht wirklich mein Befremden. Es war das Auftreten der fünf. Sie schienen irgendwie nicht von dieser Welt zu sein. Ihr nachsichtiges und philosophisches Gehabe erinnerte mich an Gestalten, denen ich vor Urzeiten schon einmal begegnet war. Man wollte kein Freund von ihnen sein, und doch faszinierten sie einen.

Dann waren da Metathrons Andeutungen um den vermeintlich unrettbar verlorenen Junior. Er wollte sich nicht darauf festlegen, daß der Junge tot war. Aber was war dann mit ihm geschehen? Und woher wollte dieser aufgeblasene, wie aus dem Nichts aufgetauchte Typ überhaupt wissen, was in der Nacht mit Junior geschehen war, wenn er doch selber zugab, kein Hellseher zu sein? Und schließlich war da die wirklich knifflige Angelegenheit mit diesem blöden Kontrakt, den ich vor langer Zeit unterschrieben haben sollte. Metathron hatte darauf angespielt, daß Juniors Verschwinden irgendwie damit zusammenhinge. Ohne genau zu wissen, wovon er überhaupt sprach, hatten mich seine sibyllinischen Worte getroffen wie ein Keulenschlag. Es war, als wäre nach siebzehn Jahren herausgekommen, daß ich als jugendlicher Adonis in einem Spitzohr-Porno mitgewirkt hatte, der nun im Internet kursierte. Aber es handelte sich nicht um einen Porno, sondern um ... ja, langsam begann ich mich an diesen albernen Vertrag zu erinnern. Und an alles, was er beinhaltete. Auch entsann ich mich mit einem Mal an die Narben an meinem Hintern, über die längst dichtes Fell gewachsen war. Doch es war wie verflixt, die längst vergilbten Bilder in meinem Hirnarchiv fanden nur quälend langsam Zugang in mein Bewußtsein. Und als der unerbittliche Zensor sie endlich zur Betrachtung freigab, wollten sie keinen rechten Sinn ergeben.

Nach einem nicht ungefährlichen Abstieg auf den vereisten Stufen der Feuertreppe stapfte unser Konvoi über die Mauern zum besagten Garten, in dessen Mitte der Brunnen stand. Es war der falsche Zeitpunkt für melancholische Rückerinnerungen an die vielen verstrichenen Jahre, seitdem ich diesen Ort zum ersten Mal betreten hatte. Dennoch löste der Anblick des Brunnens genau dieses Gefühl in mir aus, und für einen Moment hatte ich einen Kloß im Hals. Natürlich hatte sich die Kulisse mittlerweile komplett verändert. Waren die alten Gründerzeitgebäude damals halbe Ruinen gewesen, die nicht einmal die raffgierige Brut hätte erben wollen, so sahen sie nach den Renovierungen de luxe wie kleine Paläste aus. Und hatten die verfallenen Ziegelsteinmauern und verwilderten Gärten ehemals Ähnlichkeit mit Rudimenten einer längst untergegangenen Kultur besessen, hätten sie heute selbst Ludwig XIV. zum Lustwandeln eingeladen. Heimelig dämmerte es aus den original rekonstruierten Fenstern der Rückfassaden.

Wir alle sprangen auf den runden Brunnenrand und richteten den Blick in den Schacht. Aus einiger Entfernung mochte unser Anblick wohl so wirken, als steckte das Hexengetier über dem Schornstein des Hades die Köpfe zusammen, um den Leibhaftigen heraufzubeschwören. Wie befürchtet präsentierte der Brunnenschacht nichts als unergründliche Schwärze, in der der Wind einen Dauerhall erzeugte. Das Ende des Schachts war jedenfalls nicht zu erkennen.

»Herrje, man müßte ja fliegen können, um da unten hinzugelangen«, sagte Metathron mit einem aufgesetzten Lächeln.

»Keineswegs«, erwiderte ich und erklärte, wie ich es damals angestellt hatte, völlig unversehrt den Brunnengrund zu erreichen.

»Scheiße nein!« schaltete sich Blaubart ein. »Denkst du auch, was ich gerade denke, Francis?« Über sein halb eingefallenes Gesicht mit der einen schrumpeligen Augenhöhle legte sich tiefste Besorgnis.

»Leider ja, Kumpel. Aufgeputscht durch die Jugendabenteuer von Papa Tausendsassa ist dieser dämliche Kerl in der Nacht losgezogen, hat den Brunnen gefunden und sich dann wie das väterliche Vorbild einfach in die Röhre fallen lassen. Im Gegensatz zu seinem Alten erwartete ihn jedoch am Ende der Flugreise kein bequemes Bett, sondern der nackte Steinboden. Vermutlich liegt er jetzt dort unten mit gebrochenem Genick mausetot herum.«

Die Abessinier wechselten untereinander vieldeutige Blicke. Doch obercool, wie sie nun einmal waren, schienen sie von meiner Horrormutmaßung nicht besonders beeindruckt zu sein. Es sei allerdings erwähnt, daß ich das befürchtete Szenario deshalb in so dramatischen Farben ausgemalt hatte, weil ich die komischen Burschen unbedingt zu einer Reaktion provozieren wollte. Sie wußten mehr, als sie vorgaben, davon war ich überzeugt. Aber nichts geschah. Nachdem die geheimnisvollen Blicke ausgetauscht waren, schauten sie wieder so interessiert drein, als ginge es hier um die Frage, ob das Schnappen nach Mücken nach der Hauptspeise den delikaten Nachgeschmack im Maul neutralisiert. Dafür merkte ich Blaubart an, wie er geradezu in sich zusammenfiel. Nach dem mühseligen Marsch durch den Schneesturm schien für meinen in vieler Hinsicht deformierten Partner ohnehin das Ende der Fahnenstange erreicht. Aber der Gedanke, daß Junior tot sein könnte, kam für ihn einem Stoß gleich, der ihn endgültig niederwarf. Er hatte den Bengel genauso lieb wie ich.

»Uff!« machte mein mitgenommener Freund und sank auf die Knie. »Scheiße nein, Francis, also, wenn das wirklich wahr ist, dann hättest du letzte Nacht besser die Klappe halten sollen. Du weißt doch, wie sehr der Junge dir nacheifert.«

»'tschuldigung, wenn ich eure Vertraulichkeiten unterbreche«, sagte Metathron. »Aber wie geht es nun weiter?«

»Hast du auch was zu vermelden, du Knilch?« blaffte Blaubart. »Niemand hat euch Sogar-der-Pharao-hat-sich-unsere-blöde-Visage-auf-seinen-Sarkophag-gravieren-lassen-Typen gebeten mitzukommen!«

»Ruhig Blut, Blaubart.« Ich wandte mich an Metathron. »Du hast recht, Kumpel, wir dürfen keine Zeit verlieren. Das einfachste ist, ich springe jetzt da hinein, um meine Vermutung zu überprüfen.«

Sofort war Blaubart wieder auf den Beinen, und ich bemerkte, daß er jetzt leicht zitterte. »Bist du jetzt endgültig übergeschnappt, Francis? Du hast doch eben gesagt, daß Junior vielleicht so ums Leben gekommen sein könnte.«

Ich lächelte milde. »Eben drum, Blaubart. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich noch weiterleben möchte, wenn mein geliebter Sohn nicht mehr unter den Lebenden weilt«, sagte ich und ließ mich dann in den Brunnenschacht fallen.

Zum zweiten Mal in meinem Leben vollführte ich nun also einen Flug durch die Finsternis, ohne zu wissen, welche weitere Existenzform mich am Ziel der Reise erwartete. Entlang der aus dem Mauerwerk herauswachsenden, kahlen Äste und durch den Luftzug leise schwingenden Spinnennetze ging es im rasanten Tempo abwärts. Um es kurz zu machen, es kam unten nicht zu einem Zusammentreffen zwischen meiner weichen Birne und dem harten Stein, sondern ich landete wie erhofft im gemachten Bett. Rasch befreite ich mich aus dem Haufen aus vertrockneten Blättern und Gestrüpp, in den ich mich regelrecht hineingebohrt hatte, ging zur Seite und schüttelte mich kräftig.

»Francis, geht's dir gut?« hörte ich Blaubarts hallende Stimme von oben durch die Röhre brüllen.

»Und wie!« rief ich zurück. »Hätte ich gewußt, daß es im Jenseits so toll ist, hätte ich vorher noch mein Premiere-Abo abbestellt.«

Gleich darauf vernahm ich ein lautes Rauschen im Schacht und sah schon im nächsten Moment, wie Blaubart gleich einem durch die Serviceklappe geschmissenen Wäschesack herabsauste. Nur noch sein Kopf lugte aus dem natürlichen Komposthaufen hervor. »Scheiße nein, ganz schön schummerig hier!« war sein erster Eindruck.

Es brauchte einige Sekunden, bis sich unsere Augen auf Nachtsicht-Modus umgeschaltet hatten. Die gute Nachricht: Von Junior war weit und breit nichts zu sehen, obwohl ich riechen konnte, daß er diesen von Spinnweben, schwachsinnigem Mäuse-Proletariat, abgebrannten Kerzen und inzwischen zu unförmigen Klumpen verpappten Büchertürmen beheimateten Ort tatsächlich aufgesucht hatte. Die schlechte Nachricht war keine Nachricht, sondern das Gefühl tiefster Schwermut in Anbetracht der zahllosen Gerippe um uns herum. Gleich einer von Archäologen freigeschaufelten, uralten Totenstätte gewahrten wir nichts als Knochen über Knochen. Für den Wissenschaftler ein Fund von unschätzbarem Wert, war der Anblick für mich ein gnadenloses Skalpell, das die längst verheilt geglaubten Wunden wieder offenlegte. Während ich den Blick über die Gebeine und teilweise vollständig erhaltenen Skelette der Dudes schweifen ließ, traten mir Tränen in die Augen. Gleichzeitig sagte mir die Vernunft, daß es keinen Sinn hatte, längst beweinte Tote noch einmal zu beweinen.

»Wie sieht's aus, Francis? Bist du der Wahrheit inzwischen ein Stück nähergekommen?« Metathrons Stimme klang in der Dunkelheit wie die eines Geistes.

Blaubart und ich fuhren herum und starrten ungläubig auf die Fünferbande direkt hinter uns. Weder hatten wir das leiseste Geräusch gehört, als die Abessinier in den Pflanzenhaufen hineingepurzelt waren, noch irgendwelche Raschellaute vernommen, die unweigerlich damit einhergingen.

»Noch so ein Trick, und ich melde euch zur Strafe bei David Copperfield zum Putzdienst an«, sagte ich.

»Scheiße ja«, ergänzte Blaubart. »Ihr werdet mir langsam unheimlich.«

»Was gedenkst du also zu tun, Francis?« Metathron ließ sich nicht beirren und fixierte mich mit eisigem Blick.

»'ne weitere Runde Eisschlecken, du Schmock!«

Zirka eine halbe Stunde später standen wir vor der abgewirtschafteten Villa. Ich hatte die anderen durch das stillgelegte Wasserrohr ins Freie gelotst und war mit ihnen auf das unbebaute Terrain geklettert. Nichts schien sich hier seit den unseligen Tagen verändert zu haben. Und das war ungewöhnlich genug in einem Altbaugebiet, in dem inzwischen jeder Quadratzentimeter mit Gold aufgewogen wurde. Weshalb ließ man ein solches Filetstück an Bauland brachliegen? Wem gehörte es? Refizuls Erben oder, wie Dr. Gabriel einmal beiläufig erwähnt hatte, der Anstalt Morgenrot? Doch Morgenrot war abgebrannt.

Es gab doch eine Veränderung, wenn auch keine wesentliche. Die Villa war nun vollends verrottet. Sogar ganze Mauern waren über dem Fundament zu Schutthaufen zusammengefallen. Dem Dach war es stellenweise genauso ergangen. Wir sprangen auf die völlig demolierte Veranda und spazierten durch den nicht mehr vorhandenen Haupteingang in den Salon. Der aus den Löchern beständig hereinrieselnde Schnee spielte den gnädigen Visagisten, der aufzuhübschen versuchte, was schon längst unrettbar verloren war. Das Mobiliar und das audiovisuelle Equipment hatten sich inzwischen entweder in seine Bestandteile aufgelöst oder waren zu verschrumpelten Mumien ihrer selbst geworden. Der Schnee überzog jeden Gegenstand mit einer dicken Schicht und hatte selbst den großen Kamin und die spiegelverkehrt angelegten, zur Galerie führenden Treppenaufgänge unter sich begraben.

»Er war hier«, sagte ich, nachdem wir ins Zentrum des saalartigen Raumes gelangt waren, der ein wenig dem Schloßvestibül der Eiskönigin ähnelte.

»Wie kommst du darauf?« wollte Metathron wissen.

»Blut ist dicker als Wasser.« Ich deutete mit der Schnauze auf den Boden. Obwohl durch den Schneefall die weiße Schicht in den letzten Stunden wieder um einige Zentimeter angewachsen sein mußte, blitzte unter unseren Pfoten eine gesprenkelte Blutspur auf. Sie war inzwischen gefroren und sah schon bräunlich aus. Sofort fing mein Herz an zu rasen und zu hämmern, als hätte ich soeben einen Marathonlauf absolviert. Meine schlimmsten Befürchtungen drohten Wirklichkeit zu werden. Dennoch nahm ich allen Mut zusammen und folgte den Blutstropfen. Der ebenfalls vollkommen aufgelöste Blaubart und die Abessinier blieben dicht hinter mir.

Die Spur schien zunächst überall hinzuführen, da sie sich verzweigte, verwirrende neue Richtungen einschlug oder sich großflächig an einer Stelle konzentrierte. Dennoch gab es so etwas wie eine Hauptlinie, die unerbittlich zu einer aufgetürmten Ansammlung von Elektronikschrott führte. Als wir dort ankamen, machte die Spur einen Schlenker um die Ecke. Ich atmete tief ein, bog ebenfalls um die Ecke und -

 

Drei völlig unterschiedliche und sich widersprechende Gefühlsregungen nahmen gleichzeitig von mir Besitz: Entsetzen, Erleichterung und Wiedererkennen. Hinter dem Elektroschrotturm stand eine Kommode mit stilvollen Intarsien und aufgerissenen Schubladen. Davor standen zwei Kerzenständer, die sehr lang und jeweils mit einem Spieß zum Aufstecken der Kerze ausgestattet waren. Einer dieser Spieße hatte ... Eloi vom Bauch aus durchbohrt und war aus dem Rücken wieder herausgetreten.

Trotz der vielen vergangenen Jahre und der ihn entstellenden Pose erkannte ich ihn sofort. Dem Siamesen, der bäuchlings wie eine erschlaffte Riesenwurst an dem Ding hing, war aus der Stichwunde, aber auch aus Nase und Maul jede Menge Blut geflossen, das inzwischen schon geronnen war und sich schwarz gefärbt hatte.

Gewiß war ich erleichtert, weil ich nicht Junior vor mir hatte. Trotzdem sagte mir eine innere Stimme, daß er mit dieser Sache etwas zu tun haben mußte. Und natürlich wußte ich auch, daß es sich bei dem Aufgespießten in Wahrheit nicht um Eloi handelte, sondern, na ja, vielleicht um einen Doppelgänger, um seinen Bruder oder gar um seinen Sohn. Etwas Furchtbares mußte sich hier abgespielt haben. Doch wieso zog ein Blutbad, das sich vor siebzehn Jahren ereignet hatte, immer noch einen Blutstrom nach sich?

Um meine Gedanken zu ordnen, legte ich den anderen kurz den Sachverhalt dar. Unterdessen sprang Blaubart in die aufgezogenen Schubladen und inspizierte schnüffelnd eine nach der anderen. Als ich zu Ende gesprochen hatte, steckte er bereits in der untersten Schublade und versuchte mit der Schnauze, etwas Schweres hochzustemmen. Schließlich gelang es ihm, das Ding mit einem Kopfstoß über die Vorderwand der Schublade zu kicken. Es schlug auf dem Boden auf und zersplitterte.

»Schau mal, Francis, der Kerl hier auf dem Bild sieht wie eine Kopie von der Blutwurst da aus.«

Wir alle blickten auf eine gerahmte Schwarzweißfotografie hinter zersprungenem Glas, das fast bis zur Unkenntlichkeit verschmutzt war. Es handelte sich um einen alten Zeitungsausschnitt, der Refizul und Eloi zeigte. Allerdings einen recht aufgeräumten Refizul im schicken Tweedanzug, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, und einen Eloi, der zu seinem einstigen Dude-Look solcherweise in Kontrast stand wie eine Glitterhose mit Pailletten zu einer abgetragenen, löchrigen Jeans. Der Alte hatte seine linke Hand auf meinen einstigen Mentor gelegt. Die beiden schienen ein richtiges Paar zu sein, mehr noch gute Geschäftspartner, die einander die Bälle zuspielen. In der Bildunterschrift darunter wurde die Anstalt Morgenrot erwähnt und die darin praktizierte, ausgefallene Therapie mit unseresgleichen, die sich in der Pilotphase befände. Und daß Refizul der Direktor der Anstalt sei!

»Hast du nicht erzählt, daß man diesen Typen damals als armen Irren in der Klapse eingekerkert hat?« wollte Blaubart wissen.

»Ähm ... ja.«

»Und hast du nicht gesagt, daß dieser Siam so was wie der Häuptling der Brunnenhippies war, der sich den lieben langen Tag einen Minzestengel nach dem anderen reingezogen hat?«

Ich öffnete den Mund, um erneutes Gestammel von mir zu geben, als Metathron zwischen uns trat und mich mit seinem grünäugigen Hypnoseblick gefangennahm. Seine zwischen Kupferrot und Sandfarben schwankenden Fellhaare hatten sich alle einzeln aufgerichtet, und so desolat, wie ich mich nun fühlte, vermeinte ich sogar eine goldene Aura um ihn zu sehen.

»Ich glaube, Francis ist momentan ziemlich geschockt und hat deshalb mit gewissen Erinnerungslücken zu kämpfen«, sagte er und präsentierte abermals sein wissendes Lächeln. »Alles wird bestimmt einen Sinn ergeben, wenn wir Junior finden.«

»Nur wie?« fragte ich resigniert. Ein bißchen schämte ich mich dafür, daß ich nicht gleich mit der Wahrheit herausgerückt war. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor, der sich nach dem Abschluß der Windelphase noch in die Hose gemacht hat. Allerdings war es auch ein Ding der Unmöglichkeit, sich in diesem Verwirrspiel zwischen Erinnerung und Einbildung zurechtzufinden. Eine düstere Wolke legte sich auf meinen Geist und ließ die graue Vorzeit noch etwas grauer erscheinen. »Ich würde alles dafür tun, um den Kleinen wieder zurückzubekommen!«

»Wirklich alles?« Das Lächeln verschwand so gänzlich aus Metathrons Gesicht, als hätte er sich eine Eisenmaske aufgesetzt. »Bist du auch dafür bereit, der Wahrheit schonungslos ins Gesicht zu sehen? Es kann gefährlich werden.«

»Ja«, sagte ich. »Dafür würde ich sogar durch die Hölle gehen!«

»Das ist das gleiche«, entgegnete der Abessinier. »Gehen wir noch 'ne Runde Eis schlecken!«

Während wir die vom Puderzucker-Design heimgesuchten Gärten allmählich hinter uns ließen, kam es mir so vor, als sei der mit solcher Beharrlichkeit wütende Schneesturm gar kein Naturphänomen, sondern eine Art Symphonie oder besser gesagt, der Soundtrack für meinen chaotischen Geisteszustand. Die Gründerzeithäuser, hinter deren erleuchteten Fenstern chronisch das Glück zu wohnen schien, verschwanden aus unserem Blickwinkel und wichen einer immer ländlicher werdenden Landschaft. Romantisch verschneite Felder, hier und dort vereinzelte Baumgruppen und ein einsames Gehöft mit rauchendem Schornstein lagen in weiter Ferne. Unsere Beine sanken bisweilen fast bis zum Bauch in den Schnee, und oft mußten wir eine kleine Pause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Wir waren ein Treck der Erschöpften, dennoch mit klarem Ziel, das jedoch allein Metathron zu kennen schien. Nach einer kleinen Wanderung durch einen völlig lautlosen Miniaturwald standen wir endlich vor der Kulisse, die ich insgeheim schon herbeigesehnt hatte.

Wir standen am Ufer des zugefrorenen Sees und ließen unsere Blicke durch den Schneeflockenvorhang zur Insel schweifen. Nun stutzte ich doch, jedoch nicht, weil Dr. Alzheimer auch bei mir langsam an die Hirnschale klopfte und ich dort drüben immer noch die gute alte Anstalt erwartet hätte. Nein, die war ja damals mit einem großen Puff! in die Luft geflogen. Was mich erstaunte, war das neue Gebäude auf dem Eiland. Dort stand ein kolossales Hochhaus, das sich wohl einer jener postmodernen Architekten ausgedacht hatte, der während des Studiums beim Wir-ziehen-einen-geraden-Strich-Seminar gefehlt hatte. Der rechteckige Glaskasten verbog sich auf halber Höhe um neunzig Grad, so daß einem schon bei der Vorstellung schwindelig wurde, sich darin aufzuhalten. Auf dem Dach glühte eine riesige Leuchttafel mit der korallenroten Inschrift MORGENROT. Die Buchstaben mußten mehr als mannshoch sein. Dieses Bauwerk eine Anstalt zu nennen und dann auch noch mit dem Zusatz »psychiatrische« zu versehen war mehr als gewagt. So luxuriös waren die Irrenhäuser nicht einmal heutzutage. Das Gebäude mußte einem anderen Zweck dienen, wiewohl es da eine Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen gab. Das spürte ich.

»Und da drin befindet sich Junior?« Ich wandte mich an Metathron. Wir alle sahen inzwischen so aus, als hätte uns ein irrwitziger Koch im Mehl gerollt. Von unserer eigentlichen Fellfarbe war fast nichts mehr zu sehen, und unser Atem dampfte in der eisigen Luft, als wären wir Lokomotiven en miniature. Um uns herum befand sich nur der ebenfalls lückenlos verschneite Wald, auf dem eine gespenstische Stille lastete. Seltsamerweise wirkte gerade der verkrüppelte Blaubart am fittesten von uns allen, ein harter Knochen von der Fremdenlegion, der am Ende der Schlacht erst so richtig zu Hochform aufläuft.

»Das liegt in deiner Pfote, Francis«, erwiderte der Sprecher der magischen fünf. Seine von Schneeflocken besetzten Schnurrhaare schwangen majestätisch im Wind.

»Noch eine Frage«, sagte ich. »Sind wir uns früher schon einmal begegnet?«

»Das kann durchaus sein. Vielleicht nicht in dieser Gestalt. Aber Begegnungen haben es so an sich, daß sie vielgestaltig sind.«

Ich nickte, dann wandte ich mich an meinen Partner. »Komm, Blaubart, wir schnappen uns den Kleinen und bringen ihn heim!«

Wir staksten den kleinen Abhang zum See hinunter und begaben uns auf das Eis. Plötzlich merkte ich, daß die Abessinier uns nicht folgten. Ich drehte mich um und sah sie nebeneinander in einer Reihe auf ihren Hinterbeinen sitzen wie von einem Künstler geformte Schneemänner.

»Was ist, kommt ihr nicht mit?« fragte ich.

»Leider nein, Francis«, antwortete Metathron. »Du und Blaubart müßt die Prüfung alleine durchstehen. Aber vor allem kommt es auf dich an, lieber Freund. Doch keine Sorge, im Geiste sind wir stets bei euch.«

»Von welcher Prüfung redest du überhaupt?«

Eine heftige Schneeverwehung schob sich mit einem Mal zwischen uns, und Eure Merkwürdigkeiten waren nicht mehr zu sehen. Was Merkwürdigkeiten betraf, hatte ich davon gleichgültig in welcher Erscheinungsform inzwischen ohnehin die Nase gestrichen voll. Alles, was ich wollte, war meinen Sohn wieder in die Pfoten schließen und danach meinen Hintern respektive den süßen von Sancta an Gustavs warmen Kamin schieben, bis wir am Ende vor Gemütlichkeit platzten. Kurz, ich träumte den Traum aller alten Säcke.

Blaubart und ich trippelten auf dem Eis in Richtung der Insel. Bald war das zurückliegende Ufer nicht mehr zu sehen. Mir ging auf, daß ich quasi über meine eigene Vergangenheit spazierte. Beinahe wäre ich damals in dem Wasser ungekommen, das sich jetzt unter dieser Eisschicht verbarg. Persönlich hatte ich sogar den Eindruck, daß ich tatsächlich ertrunken war. Doch irgendwer hatte mich schlußendlich gerettet. Und dann? Was war dann passiert? Es schien einen gewaltigen Riegel zu geben, welcher mit aller Macht verhinderte, daß sich eine bestimmte Kammer in meinem Gedächtnis öffnete. Hätte Junior mich nicht aufgefordert, von meinen Anfängen zu erzählen, dann ahnte ich heute noch nichts von der Existenz dieser Kammer. Vielleicht, so dachte ich nun, sollte man nicht allzuoft nach den Leichen im Keller sehen.

»Schau, Francis!« rief Blaubart aus und blieb abrupt stehen. »Scheiße nein, da scheint jemand echt ein großes Problem mit der Kälte gehabt zu haben.«

Etwa auf halber Strecke ragte Charon in seiner vermoderten Fähre wie eine bizarre Freiheitsstatue aus dem Eis hervor. Der knochige, hohlwangige Runzelgreis mit ledernem Schlapphut und der überlangen Pelerine stützte sich auf seinen Holzpflock und hatte einen ausgestreckten Zeigefinger auf die Insel gerichtet. Die krumme Körperhaltung, die tief in den Höhlen liegenden, aufgerissenen Augen, der bösartige Blick – alles war eigentlich wie früher. Nur war der Fährmann samt seinem Vehikel diesmal so vergletschert, als hätte er ein Bad in flüssigem Stickstoff genommen.

»Normalerweise verlangt er einen Goldtaler«, sagte ich. »Das bedeutet nichts Gutes.«

Wir erreichten die Insel und eilten einen pompösen Treppenaufgang hinauf. Die gläsernen Schiebetüren öffneten sich automatisch, und wir huschten in das Mammutgebäude. Ich muß zugeben, daß es im Leben Schlimmeres gibt, als von minus zehn Grad in wohlige plus zweiundzwanzig einzutauchen. Trotzdem hatte ich vom ersten Moment an das Gefühl, als hätte ich im Heißhunger eine Ratte verschlungen, obwohl deutlich zu erkennen gewesen war, daß das Biest ziemlich krank war. Unser neuer Aufenthaltsort indes hätte erlesener nicht sein können. Gleich mehrere Steinbrüche in Italien hatten für diesen Luxus ihre Reserven an Bianco-Carrara-Statuario-Marmor bis auf die letzte Schicht hergeben müssen. Die Empfangshalle, die eher die Größe einer Sportarena für internationale Wettkämpfe besaß, war gepflastert mit dem Zeug. Tausende von winzigen Lämpchen, die in den Stein eingelassen waren, leuchteten wie eine Invasion von Glühwürmchen.

An der linken Flanke befand sich der einzige Fahrstuhl, und wie es aussah, war er nicht besonders geräumig. Seltsam. Wenn man davon ausging, daß in dem Gebäude locker tausend Leute beschäftigt waren, mußten sich wohl vor dieser Tür stets lange Schlangen bilden. Interessant jedoch war der Rahmen der Fahrstuhltür. Diesmal funktionierte mein Gedächtnis reibungslos, und ich wußte sofort, wo ich so etwas schon einmal gesehen hatte. Wie das Portal der ehemaligen Anstalt Morgenrot hatte auch dieser Rahmen Fratzen, Torsos, Tiergestalten und Mythenwesen zum Motiv. Die teils reliefartigen, teils statuesken Figuren schienen im Moment intensivsten Jammers und Schmerzes porträtiert. Der einzige Unterschied zum alten Kloster war, daß sie hier augenscheinlich aus Massivgold bestanden.

Die Hauptüberraschung kam aber, als ich den Blick nach rechts wandte. Der Panzermann war wieder von den Toten auferstanden! Und wie stilvoll. Der Kerl mit dem pockennarbigen Gesicht und der Statur eines Elefanten, eine gefährliche Mischung aus Muskeln und Fett, steckte in einer mit Goldknöpfen bestückten, scharlachroten Livree eines Portiers. Er trug sogar eine feine Mütze und Samthandschuhe. Um ihn herum verlief eine ovale Portiersloge, in die locker ein Reihenhaus gepaßt hätte. Doch im Gegensatz zu seinem früheren rüpelhaften Verhalten grinste er mich nur an und deutete mit der Rechten zum Aufzug.

»Ich hätte mich darauf nie einlassen sollen«, ist die gängige Floskel, wenn von selbstverschuldeten Katastrophen die Rede ist. Nur verhielt es sich bei mir anders. Ich hatte keine Wahl! Und Gott allein wußte wirklich und wahrhaftig warum. Blaubart und ich begaben uns zum Fahrstuhl und stiegen ein. Die Türen schlossen sich hinter uns, und es wurde ziemlich dunkel. Einzig ein fahler Strahler an der Decke beleuchtete die Kabine. Trotzdem kam der Luxus voll zur Geltung. Roter Samt schmückte die Wände, und über der Tür war ein Dämonenhaupt angebracht. Ein goldener Handlauf führte übers Eck.

Da Unerklärlichkeiten in diesem Gebäude offenbar zum Alltag gehörten, wunderte es uns auch kaum, als der Aufzug sofort aufwärts fuhr, ohne daß einer von uns auch nur überlegt hatte, wie überhaupt und welche Taste er an der Steuerungskonsole hätte drücken sollen. Unsere Blicke hingen an dem Display neben der Tür. Zunächst zählte das Ding brav die passierten Stockwerke ab. Doch nach dem dreißigsten Stock gab es den Geist auf und präsentierte nur noch ein unkontrolliertes Blinken. Zwischendurch schaute mich Blaubart immer wieder fragend an, als würde ich das Reiseziel kennen. Wie soll ich sagen, ich tat es und doch wieder nicht. Zwar konnte ich mir ungefähr denken, wem wir gleich gegenüberstehen würden, aber gleichzeitig ...

Plötzlich vernahmen wir ein Geräusch, als kreuzten zwei Musketiere krachend die Klingen. Unter unseren Pfoten schien etwas vorzugehen. Furchtsam schauten wir hinunter. Exakt in der Mitte des quadratischen Marmorbodens wurde jäh eine dunkle Linie sichtbar, die von einem Ende zum anderen reichte. Daran spaltete sich der Boden, und die jeweiligen Teile bewegten sich seitwärts. Geistesgegenwärtig machte ich einen Satz auf den Handlauf und drückte mich gegen die Kabinenwand. Blaubart wollte es mir gleichtun und sprang ebenfalls nach oben. Doch seine Pfoten rutschten an der goldenen Stange ab, und er stürzte auf eins der noch knapp verbliebenen Bodenteile.

Die immer größer werdende Öffnung in der Mitte enthüllte im Fahrstuhlschacht ein wahres Inferno. Es brannte darin lichterloh. Haushohe Flammen schlugen entlang der Zugseile empor, die ein enervierendes Kreischen von sich gaben. Das Feuer schnappte mit rot-, grün- und blauglühenden Zungen nach dem nach oben rasenden Aufzug und drohte schließlich ins Kabineninnere überzugreifen. Explodierende Feuerbälle, gigantische Flammensäulen und ein Niederschlag aus Funken und Gluttropfen verwandelten die Höhlung in einen kochenden Vulkan. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Stahlseile unter der gewaltigen Hitzeeinwirkung auseinanderbarsten und den Fahrstuhl zum Absturz brachten. Wer wollte uns bloß an den Kragen? Die Feuermelder hätten schon längst Alarm schlagen und die Sicherheitsleute mitkriegen müssen, daß das Gebäude an der Grenze zu einem Großbrand stand.

»Los, Blaubart!« rief ich. »Versuch's noch mal!«

Blaubart hechtete zum zweiten Mal zu mir hoch, rutschte jedoch erneut an der blankpolierten Stange ab. Als er niederstürzte, gab es keinen Boden mehr unter seinen Pfoten. Der zweigeteilte Marmor war gänzlich verschwunden und hatte dem quadratischen Loch in das Höllenfeuer Platz gemacht.

»Francis! ... Francis!« schrie der treue Freund erbärmlich, während er entsetzter Miene und mit allen vieren zappelnd in den Feuerschlund sauste. Eine Flammenwelle erwischte ihn, hüllte ihn vollständig ein, und Blaubart war einmal. Einen Wimpernschlag lang bildete geisterhafter Rauch in einer grausigen Momentaufnahme seine Konturen ab, bis der Glutofen auch diese letzte Spur vernichtete. Gleich daraufschloß sich der Boden wieder. Von beiden Seiten bewegten sich die Marmorteile aufeinander zu, bis sich am Ende sogar der dunkle Strich in der Mitte in Luft auflöste. In der Kabine sah es so aus, als wäre nichts passiert.

Hin- und hergerissen zwischen Furcht, Verzweiflung und unendlicher Trauer über den verlorengegangenen Gefährten, versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen. Auf welch perfides und nun nachgewiesenermaßen tödliches Spiel hatte ich mich da eingelassen? Wohin führte das alles? Und welcher Teufel hatte mich geritten, daß ich Junior von dieser fatalen Vergangenheit berichtet hatte? Da kam der Fahrstuhl plötzlich zum Stehen, und die Schiebetüren öffneten sich.

Das blasse Licht in der Kabine erlosch. Ich sah in einen finsteren Flur ... Nein, das war reines Wunschdenken. Es gab vor mir weder einen Flur noch sonst etwas, sondern nur ein schwarzes Nichts. Allerdings glimmte etwas Helles in der Ferne. Offenkundig wies es mir den Weg. Ich hatte keine Alternative, als diesem schwachen Leitstern zu folgen, hatte mich doch die zurückliegende Minute gelehrt, was es hieß, sich in einem Fahrstuhl mit eingebauter Falltür aufzuhalten. Also lief ich los. Ich spürte zwar festen Boden unter meinen Pfoten, das hieß aber nicht, daß diese taktile Empfindung wirklich etwas mit der Realität zu tun hatte. Raum und Zeit waren hier aufgehoben, das wußte ich. Eigentlich hätte das Ganze auch ein Traum sein können. Und wer weiß, vielleicht war es das auch, wäre da nicht die schmerzhafte Realität von Juniors Verschwinden und Blaubarts bizarrem Tod. Die Helligkeit rückte immer näher, und allmählich erkannte ich, daß sie die Bruchstelle zu einer anderen Welt war, deren Rahmen die typischen zerfaserten Umrisse aufwies. Nun befand ich mich nur noch wenige Meter von der magischen Grenze entfernt und erhielt einen ersten Blick auf das Dahinter. Es handelte sich um einen dämmerig erleuchteten Raum, um einen vertrauten Ort, wie mir schien. Ja, alles, was mir lieb und teuer war, kam aus dem heimeligen Licht langsam zum Vorschein: Der von uns als Kratzbaum benutzte, zerfurchte, alte Ledersessel, in dem Gustav gewöhnlich einnickte, das Schaffell, auf dem meine Lieben und ich gewöhnlich ebenfalls dem kleinen Tod zu frönen pflegten, und der an Wintertagen stets glühende Kamin. Ich betrat unser gutes altes Wohnzimmer.

Es war nachts. Gustav war wie üblich im Sessel eingenickt; ich sah den schattenhaften Ansatz seines Hinterkopfes über der Kopflehne. Draußen hinter dem Fenster flogen die Schneeflocken vorüber. Der Flammenschein der Holzscheite aus dem Kamin erfüllte jeden Winkel mit seinem lauschigen Licht. Allein diejenigen, die mein Leben ausmachten und ohne die ich inzwischen nichts Lebenswertes mehr empfand, glänzten durch Abwesenheit. Grenzenloser Trübsinn erfüllte mich jäh, und der Raum, den ich stets als mein Refugium betrachtet hatte, verwandelte sich in einen seelenlosen, frostigen Ort.

Ich schlurfte gesenkten Hauptes bis zur Mitte des Zimmers und schaute dann zu dem Ledersessel auf. Darin saß nicht Gustav!

»Sag jetzt nicht, daß du überrascht bist, Francis.«

Anstatt im Lauf der Jahre älter und gebrechlicher zu werden, hatte Refizul sozusagen den umgekehrten geron-tologischen Prozeß vollzogen und saß nun in verjüngter Version im Sessel. Aber vielleicht war dies die falsche Betrachtungsweise auf jemanden, der seit Menschen- und Tiergedenken immer derselbe blieb. Er hatte die hüftlangen Silberhaare Strähne für Strähne über seinem Oberkörper ausgebreitet wie der Medizinmann eines primitiven Stammes. Die leuchtenden blauen Augen, die markante Nase mit dem eleganten Höcker, die purpurroten Lippen, das spitze Kinn, sie waren eingebettet in eine Gesichtshaut, die wohltemperiert unter mediterraner Sonne gebräunt zu sein schien. Er steckte in einem leicht schimmernden, rabenschwarzen Anzug von Dolce & Gabbana mit einem roten Kruzifix auf dem Jackenrevers. Das allerdings verkehrt herum eingesteckt war.

Kurz, der Kerl sah aus wie ein Idol aller sich im gesetzten Alter befindlichen Kerle. Er hätte für sie Werbung machen und irgendwelche Vitamine vor der Kamera schlucken oder mit seinen blitzenden Zähnen in einen knackigen Apfel beißen können. Auf seinem Schoß lag ein aufgeklapptes Notebook.

»Ich habe mir schon so etwas gedacht, Refi.« Ich versuchte, so weit es ging, mir mein blutendes Herz nicht anmerken zu lassen.

»Ach wirklich?« Er lächelte maliziös, und die milden Fältchen um seine Augen bekamen ganz kurz etwas Scharfkantiges. Anscheinend hatte er mich vom ersten Moment an durchschaut. »Nun ja, an deiner überragenden Intelligenz habe ich nie gezweifelt. Nur an deiner Loyalität. Warum hast du dich so lange nicht bei mir gemeldet, lieber Freund? Immerhin sind wir Vertragspartner. Du weißt schon, das ganze Leid der Tiere, das nur ein Ende finden kann, wenn beide Arten zünftig miteinander schwafeln können und so.«

»Wo ist Junior? Und was ist mit Blaubart passiert? Glaub bloß nicht, daß du mich mit diesem Budenzauber beeindrucken kannst.«

Er grinste in sich hinein wie ein verschlagener Waldwicht, der auf einer geheimnisvollen Knolle sitzt. »Schwache Show, was? Tss, tss, tss«, machte er und schüttelte dabei den Kopf. »Die Erinnerung, Francis, allein die Erinnerung kann uns beide erlösen. Und diejenigen, die du so liebst. Es könnte für dich alles wieder so schön wie früher sein, wie in den vielen erfolgreichen Jahren, als du es vorgezogen hast, lieber nicht an unser einstiges Tete-â-tete zu denken. Du könntest glücklich sein. Du müßtest dich nur erinnern – an unsere Abmachung. Aber so wie es aussieht, weigerst du dich selbst unter diesen mißlichen Umständen. Denn freilich müßtest du dann auch den Preis zahlen und deinen im Vertrag vermerkten Beitrag leisten. Ich gehe mal blind davon aus, daß meine Wenigkeit der letzte Mensch war, mit dem du dich seitdem verbal verständigt hast. Stimmt's?«

»Du? Ein Mensch? Daß ich nicht lache. Wenn du ein Mensch bist, dann heiße ich Tante Gerda!«

Sein Grinsen wuchs sich zu einem herzhaften Lachen aus. »Deinen Humor hast du jedenfalls nicht verloren, soviel ist klar.« Immer noch lachend hob er den Zeigefinger der rechten Hand, krümmte ihn und hämmerte damit auf eine Taste des Notebooks ein. Ich hatte das untrügliche Gefühl, daß diese Geste nichts Gutes bedeutete.

»Was machst du da?« wollte ich wissen.

»Ach, nichts weiter. Ich habe nur den Startschuß zu einer Auktion im Internet gegeben. Was habe ich bloß früher ohne Ebay gemacht?«

»Hat die Sache irgendwie mit mir zu tun?«

»Alles hat mit allem zu tun, lieber Freund. Das müßtest du doch wissen. Was deinen deformierten Freund angeht, so ist Verhandlungsspielraum vorhanden. In Sachen Junior sehe ich allerdings keine so einfache Lösung am Horizont auftauchen. Da müssen wir uns schon streng an den Vertrag halten. Und zwar bis aufs Komma genau! Wo wir gerade bei der lieben Familie sind: Weißt du eigentlich, was deine geliebte Sancta gerade so treibt? Oder wo Gustav sich befindet? Nur mal so als ein kleiner Denkanstoß. Nichts für ungut. Wenn du jetzt die Freundlichkeit besäßest, in das Feuer zu schauen.«

Ich folgte der Aufforderung und sah ins Kaminfeuer. Mein Blick fuhr geradewegs in die Flammen hinein wie ein Schnellzug in einen Tunnel, und der Vergleich war gar nicht einmal weit hergeholt. Denn meine Pupillen verengten sich nicht durch das grelle Licht, sondern weiteten sich bis zum Anschlag. Zunächst nahm ich ausschließlich Dunkelheit wahr. Ganz allmählich hellte sie sich jedoch auf. Mein inneres Auge schwebte über eine düstere Halle, in der Tausende von Kunststoffkörben für unseresgleichen wie zum Abtransport bereitgestellte Frachtguteinheiten nebeneinanderstanden. Aber obwohl die Drahtgitterklappen mit kleinen Vorhängeschlössern abgesperrt waren, steckten in den Kästen keine vor Angst und Schrecken erstarrte Kreaturen, sondern Artgenossen mannigfaltiger Rassen mit recht enthusiastischem Ausdruck. Wie mir schien, freuten sie sich auf die Dinge, die da ihrer harrten. Es war nicht schwer zu erraten, daß es sich bei diesem Ort um das Magazin des Riesengebäudes handelte, vermutlich irgendwo tief unten, von wo aus die Ware in alle Welt versandt wurde. Zwischen den Körben bewegten sich Männer in sauberen grauen Overalls mit einem eingestickten MORGENROT-Emblem auf der Brusttasche, einem Käppi auf dem Kopf und einem Touchscreen-Block für die Logistik in den Händen.

Mein inneres Auge schwebte weiter, näherte sich diesem und jenem Artgenossen, dessen Spitzgesicht hinter dem jeweiligen Drahtgitter zu erkennen war. Der erste Eindruck, den ich von den Gefangenen erhalten hatte, behielt auch jetzt seine Gültigkeit. Diese waren ganz eindeutig keine bemitleidenswerten Felidae, die ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse auf dem Altar der menschlichen Geldgier verschachert werden sollten. Dafür machten sie einen viel zu gepflegten, um nicht zu sagen, einen saturierten Eindruck. In ihren Glasperlenaugen glühte zu offensichtlich Zuversicht, geradezu Euphorie und Vorfreude auf ihre Bestimmung. Es war nur ein Gefühl, aber mit einem Male wußte ich mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie allesamt eine ganz spezielle Gabe besaßen. So wie ich! Die Menschen können gar nicht mit uns sprechen, hatte damals Efendi gesagt. Wir sprechen mit ihnen. Das ist ein großer Unterschied, Alder. Sie verstehen uns bloß, mehr nicht. Und aus dem, was sie mitkriegen, reimen sie sich einen Sinn zusammen. Aber ich hab schon ein paar Mal gemerkt, daß sie nicht fähig sind, jedes Tier zu verstehen. Wir hier drinnen scheinen wohl die Ausnahme zu sein, etwas Besonderes, wenn du so willst, hatte er zu mir gesagt. Refizul hatte also sein Projekt trotz der damaligen Widrigkeiten weiterverfolgt, verfeinert, vor allem jedoch zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Das heißt, der Erfolg stand kurz bevor. Bald würde der große Meister die Ernte einfahren!

Dann erblickte ich endlich denjenigen, den ich gesucht hatte: Junior. Der Gesichtsausdruck meines Sohnes war jedoch von dem der restlichen Reisenden in spe weit entfernt. Er ließ die Ohren deprimiert herunterhängen, und auch die schwarzweißen Schnurrhaare wiesen abwärts. Der stets klare Blick war trübe geworden. Ganz offensichtlich hatte Junior jede Hoffnung fahrenlassen. Wie war er bloß in diese klägliche Situation hineingeraten? Ich gab mir selbst die Antwort: Mit seiner überragenden Intelligenz – tolle Gene! – hatte er seit gestern nacht fix den Zusammenhang zwischen der verfallenen Villa und der Insel hergestellt, und ehe er sich versah, war er zwecks Nachforschungen hier gelandet. Aber Refizul hatte ihn wegen eines ganz anderen Details dabehalten, nämlich wegen seines Talents, mit Menschen zu sprechen – leider waren auch daran die tollen Gene schuld! Eine Rettung schien unmöglich. Er würde zu einem weit entfernten Ort verfrachtet werden, und ich würde ihn nie mehr wiedersehen.

»Die Ebay-Auktion dauert nur eine Stunde«, hörte ich Refizul wie hinter Wolken zu mir sprechen. »Und vier Minuten sind schon verstrichen.«

Mein Blick löste sich von den Flammen, und ich fand mich leise weinend auf dem Schaffell wieder. Der Kerl hatte Junior in der Hand und dadurch mich gleich mit. Kapitulation? Noch vor ein paar Minuten hätte ich geschrien: Niemals! Doch jetzt ...

»Mein Traum ist wahr geworden, alter Freund«, sagte Refizul, und ich bemerkte aus den Augenwinkeln, daß sein Bestager-Gesicht dabei von spastischen Zuckungen heimgesucht wurde. »Schon bald werden unsere Botschafter von Eingeweihten in aller Welt ersteigert. Einmal bei ihren neuen Besitzern angekommen, werden sie ihre Mission erfüllen und überall die Menschen durch direkte Ansprache schockieren und beschämen. Dein Sohn wird auch darunter sein, Francis. Anstatt deiner. Übrigens, ich habe ihm erzählt, ich wäre auch ein Sohn – mein eigener! Kleiner Gag am Rande.«

»Okay, alter Mann, du hast gewonnen«, seufzte ich. »Was muß ich tun, um den Kleinen wieder zurückzubekommen?«

»Frag nicht so blöd, du Wurm!« schrie er und verspritzte dabei versehentlich etwas Speichel. Ich hatte doch gewußt, daß seine demonstrativ zur Schau gestellte Tierliebe immer nur eine verlogene Fassade gewesen war. Seine ganze Physiognomie war nun verzerrt, und die Augen schienen in schwarzer Tinte zu schwimmen. »Du weißt genau, was ich von dir will, Francis. Doch fangen wir zunächst mit einer leichteren Übung an, und zwar mit dem Erinnern. Erinnerst du dich, Francis? Ich frage dich, erinnerst du dich?«

Ich wandte den Kopf zum Kaminfeuer, und mein Blick fuhr wieder in die Flammen hinein. »Ja, ich erinnere mich«, erwiderte ich. »Eigentlich habe ich diese Nacht keine einzige Sekunde meines Lebens je vergessen. Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Grund des Sees wieder aufgetaucht bin, aber plötzlich sah ich mich ...«